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Sommernachtstraum auf Kopfsteinpflaster

23 Jun

Meine Euphorie dieser Jahreszeit gegenüber ist ungesund. Ich kann mein Glück über diese warmen Sommernächte kaum fassen und warte solange, bis sie keine mehr sind. Wenn die Sommermorgende kommen, gehe ich ins Bett, verpasse die Hälfte des besten Wetters und starte Abends wieder in den nicht endenden Sommerglückszirkel.
Das dicke hubbelige Kopfsteinpflaster fühlt sich barfuß und noch aufgewärmt vom Tag zu gut an, als dass man nachts nicht auf Zehenspitzen das Auf-die-Ritzen-treten-ist-verboten-Spiel spielen müsste.

Partypeople

Partypeople

Der Portier tut mir bei meinen nächtlichen Eskapaden immer ein bisschen leid. Das Haus wird um 22 Uhr abgeschlossen. Ungünstig, wenn ich das Haus um 23.30 verlassen möchte. Jedes Mal überlege ich, ob ich es wagen soll, aus dem Fenster zu steigen und über die Mauer zu klettern. Die Wahrscheinlichkeit, mir dabei sämtliche Knochen zu brechen, schreckt mich ab. Außerdem wären alle, die davon mitkriegen würden, not amused. Denn wo jemand aussteigen kann, kann jemand einsteigen. Und wenn dieser jemand sich nicht so lautstark bemerkbar macht, wie ich polternd vor der Portierstür, bekommt kein selig schlummernder Portier etwas davon mit und all die Kostbarkeiten des Hauses könnten unbemerkt verschwinden.

Zum Beispiel die Reliquien aus dem Schrein in Augustes Zimmer. Auguste Stein ist die Mutter von Edith Stein und beherbergt einen Haufen Fotos der Familie aus dem Edith-Stein-Archiv im Kölner Karmel und alte Möbel und andere Schätze in ihrem alten Zimmer. Und den Reliquienschrank, mein Lieblingsattribut in der Hausführung. In diesem Schrank befinden sich zwei alte elektrische Haustürklingeln, von denen man sicher sagen kann, dass Edith Stein sie angefasst hat. Das sind wohl die einzigen Gegenstände, von denen man das behaupten kann. Mich lässt das ziemlich kalt, liebe aber die Reaktionen der Besucher. Von ehrfürchtiger Andacht bis zu „Öhmn, ist mir doch fritte?!“ ist alles dabei.
Bei religiösen Angelegenheiten hatte ich schon früher das Gefühl, dass sich in Polen häufig an Äußerlichkeiten geklammert wird und so Klingeln ganz schön aufgeladen werden mit Spiritualität. Ich kann da wenig mit anfangen. Dementsprechend hört sich dann der Teil in Augustes Zimmer während meiner Hausführung an: „Sooo, wir kommen dann jetzt zum Reliquienschrank! Hier sehen Sie zwei elektrische Klingeln, die Edith Stein sicher angefasst hat. Wenn Sie möchten, dürfen sie auch mal!“, alle Sünden seien euch vergeben, möchte ich dann hinzufügen, aber meine Stimme klingt so schon schweinepriesterisch genug, denke ich. Ich mache mich nicht lustig über Leute, denen so etwas viel bedeutet, kann nur mich selbst nicht ernst nehmen, wenn ich mit seriösem Gesicht von der Wichtigkeit von etwas spreche, was mir nichts bedeutet.
Aber ich kriege meistens nur positive Rückmeldungen zu meinen Führungen. „Danke, dass Sie Zweifel zulassen!“, „Schön, dass Sie uns Ediths Leben so lebendig greifbar gemachthaben!“, „Bewahren Sie sich Ihren lockeren Umgang mit der Materie!“ – mach‘ ich, zweifelsohne.
So locker, dass ich sonntagmorgens im Jogginganzug eine verkaterte Hausführung gebe. Vielleicht hat sich der Portier aus Rache für meine unsanfte Schlafunterbrechung von der Nacht vorher überlegt, er könne die deutsche Reisegruppe furchtbar feinfühlig in Richtung Küche schicken, wo ich grade untot versuche zu frühstücken.
„Also, wir wollen Sie wirklich nicht stören, guten Appetit – aber der Herr von der Pforte hat uns zu Ihnen weitergeleitet!“ – also wollen Sie doch stören. Das heißt, man will wahrscheinlich selten stören, tut es aber trotzdem ziemlich oft, verrückte Welt.

Verrückt und unglaublich gut war auch der erste polnische Film, den ich letztens im Kino gesehen habe. Dziewczyna z szafy, das Mädchen aus dem Schrank. Der Film hat mich kopfüber gepackt. Das war einer dieser Filme, die man an beliebiger Stelle anhalten kann und sich das stehende Bild an die Wand hängen könnte. Wenn man nicht so auf Landschaftsphotographie oder Pin Ups steht.

Rewelacja! Sensation!

Rewelacja! Sensation!


Wie so oft geht es um Liebe. Tomek kümmert sich liebevoll um seinen geistig behinderten Bruder Jacek, ist selbst aber auch auf der Suche nach der Hauptgewinnsfrau, mit Liebe und allem drum und dran. Diese Suche wird erschwert durch Jacek, den man nicht alleine lassen kann. Aus Betreuungsnot geboren entwickelt sich eine merkwürdige Freundschaft zwischen der minimal sprechenden Nachbarin und Jacek. Die Nachbarin ist das Mädchen aus dem Schrank und selbst psychisch ziemlich angeknackst, sie lebt in Parallelwelten und versucht zu Beginn des Films, sich umzubringen. Es geht um Liebe, Tod, Familie – die ganz dicken Dinger. Und für euch dadrüben hoffe ich, dass es demnächst eine Synchronisierung gibt und meine platten, nichtssagenden Sätze hier mit euren Gedanken und Gepacktheit füllen könnt.
Nach dem Film ging nur noch Rotwein und Schokokuchen in der Mleczarnia, wo wir immer den Rabbi der jüdischen Gemeinde um die Synagoge zum weißen Storch treffen. Ich war erst zweimal da, als er nicht da war.

Ich fühle mich hier in der jüdischen Gemeinde deutlich wohler, als in katholischen Gottesdiensten. Obwohl es eine orthodoxe Gemeinde ist, kommt es mir in der Synagoge alles viel lockerer vor als in der Kirche. Lockerer heißt nicht, das Religiösität weniger Bedeutung hat. Aber beispielsweise Gebete und Lieder klingen viel intensiver, da ist mehr Dynamik drin. Auch, wenn ich natürlich mit Hebräisch nichts anfangen kann, meine ich trotzdem zu verstehen.
Dadurch, dass die Gemeinde ziemlich klein ist, ist die Atmosphäre sehr familiär und man kennt die Gesichter schnell.
Letztens habe ich mich mit einem Juden hier aus der Nachbarschaft unterhalten und er hat mir erzählt, dass er eine wichtige Verabredung hatte, zu der eine weitere Person nicht gekommen ist, ohne abzusagen.
„Weißt du, ich bin Jude. Wir machen so etwas nicht, wir halten uns an Abmachungen oder sagen Bescheid, wenn etwas dazwischen kommt.“
Ich antworte, dass ich meine, dass diese Haltung eigentlich nichts mit Religion zu tun haben sollte, sondern auch Atheisten sich an bestimmte gesellschaftliche Regeln halten sollten.
Aber ich bin ins Nachdenken gekommen. Wann habe ich das letzte Mal einen Satz angefangen mit „Ich bin Christin und deshalb…“, diese Argumentation ist in meinem Bewusstsein nicht wirklich präsent.

Gerade habe ich wieder eine Woche von meinem Abreißkalender abgerissen und musste schlucken. In zwei Monaten werde ich schon meine 7000 Sachen packen müssen. Keine Ahnung, was ich davon halten soll. Bis dahin tanze ich durch die Sommernächte.

Tanz! Tanz!

Tanz! Tanz!