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Was Ania Aniołka so erlebt

9 Dez

Der Poloniesierungsprozess ist in vollem Gange. Wenn ich neue Leute kennenlerne, stelle ich mich jetzt ganz selbstverständlich als „Ania“ vor. Das verwirrt weniger und klingt schöner als „An-na“, was hier sonst aus meinem Namen gemacht wird. Auch die männliche Endung meines polnischen Nachnamens passe ich an, irgendwie ist mir danach. Auch, wenn ich damit wieder Verwirrung stifte: So geringe Polnischkenntnisse bei so einem polnischen Namen?
Ich arbeite ja dran, ab Januar wird im Büro nur noch Polnisch gesprochen, haben wir abgemacht.

Die Woche fing mit der IKEA-Entjunferung Olgas an. In der Ukraine gibt es kein IKEA, auch, wenn es farblich sehr mit der ukrainischen Flagge harmonieren würde. Stattdessen soll es da recht grau sein, aber wir arbeiten dran. Ein Besuch im Sommer ist fest eingeplant!
IKEA in Wroclaw ist eher nicht in Wroclaw, sondern in einem Gewerbegebiet außerhalb der Stadtgrenze. Nach der Arbeit schwingen wir uns also in Bus und Bahn und landen im Nichts an einer Bushaltestelle neben einem Hotel (ich bin ein bisschen erleichtert, falls es also gar nicht mehr weiter geht, müssen wir nicht draußen auf der Straße erfrieren) und einem Badausstattungsgeschäft. Da das Hotel unnötig eingezäunt ist, überqueren wir todesmutig die eisglatte Landstraße und treffen im Badausstattungsgeschäft auf einen sehr hilfsbereiten Badausstattungsfachmann, den wir leider versäumen, nach seiner Nummer zu fragen, wir laufen schnell Gefahr, uns noch einmal zu verlaufen – seine Wegbeschreibung führt uns trotz fehlenden Bürgersteigen über die Landstraße zu IKEA.
Völlig verfroren schmeißen wir uns auf ein Sofa und könnten gut schlafen.
Da ich ein bisschen neidisch auf Olgas Topfpflanze, die wir Pan Marcepan taufen, bin, erstehe ich einen palmenartigen Bartek. Jetzt steht Bartek auf meinem Tisch vor der Pinnwand, strahlt und genießt seinen Winterurlaub.

Święty Mikołaj, Nikolaus, rückt näher und damit die Vorbereitung für das Konzert von Helen Kim und ihrer schwedischen Crew in unserem Salon. Unsere Koordinatorin Monika hatte sie nach einer Theateraufführung, bei der Helen ein Stück gesungen hatte, angesprochen, ob sie nicht Lust hätte, ein Konzert im Edith-Stein-Haus zu geben. Sie hatte, und wie! Es würde das erste Mal sein, dass sie vor einem Publikum singt, das nur für sie kommt.
Das will ich kaum glauben, als ich sie bei den Proben höre. Sicher, da sind viele Fehler, aber diese ungeschliffene Rohdiamantenstimme macht mir Gänsehaut.
Beim Konzert am Nikolausabend ist der Salon voll mit jung, hauptsächlich internationale Medizinstudenten – Helen ist halb Polin, halb Koreanerin, in Schweden aufgewachsen und Medizinstudentin. Ein Publikum hier, das größtenteils aus Leuten unter 50 besteht, habe ich in meiner Zeit im Edith-Stein-Haus noch nicht erlebt – es tut gut.
Helens „Sinnerman“-Cover (Nina Simone) folgt mir, als dauerhafter Ohrwurm und aktuelles Lieblingslied.
Der Abend endet im Schnee.
Mit Rafal aus dem Vorstand des ESH, seinem Cousin, Monika, Olga und Glühwein sitze ich noch ein paar Stunden bei uns in der Küche. Ich bin ein Küchenmensch und ich mag unsere Küche. Aber mit Menschenfüllung (ignoriert die kanibalistische Konnotation einfach) finde ich sie nochmal liebenswerter.
Es hat geschneit, er liegt noch da, der Schnee. Dass aus der Idee, einen bałwan zu bauen, nichts werden würde, war klar, als der erste Schneeball fliegt. Schnee in seiner Reinform ist echt okeeh. Sogar im Gesicht, sogar im Auge.

Was Schnee mit uns macht

Was Schnee mit uns macht

Das war Nikolausabend. Vorher habe ich noch meinen Deutschkurs, den ich immer routinierter geben kann. Anfangs war ich noch seltsam nervös, weil ich manchmal Wörter nicht erklären kann und bei Grammatik selbst unsicher bin. Jede Minute war durchgeplant, damit ich bloß nicht ins Rudern komme. Aber jetzt bereite ich meistens zwei Stunden vor und mixe dann, wie es mir passt. Dieses Mal endet die Stunde mit Rolf Zukowski, ich habe Lust, die Ladies beim Rumwippen und „Lustig, lustig, trallerallera“ zu filmen, genieße den Moment dann aber einfach, wie er kommt.

Das war Nikolausnachmittag. Morgens fahre ich im Dunklen los, bepackt mit einem sperrigen Sack. Als ich ankomme, ist die Sonne gerade aufgegangen, kurz strahlt mir ein Türkeiurlaubssonnenuntergangsorange entgegen, dann fängt es plötzlich an zu schneien. Okay. Wo fahre ich hin und was ist in dem Sack?
Meine liebe Polnischlehrerin hatte mich gefragt, ob ich ihr und dem Nikolaus helfen könnte, in einer Grundschule Süßigkeiten an die Kinder zu verteilen. Als Engelchen mit weißem Kleidchen, Engelsflügeln und Heiligenschein. Ich sollte eine süße Begleitung für den Nikolaus (für mich ganz klar ein Weihnachtsmann, ich war überrascht, dass trotz überkatholisch da nicht unterschieden wird) sein, auch einer ihrer Polnischschüler. Israel aus Kuba als Weihnachtsmann in Polen, irgendwas daran lässt mich schmunzeln.
In meinen goldenen Ballerinas hüpfe ich vier Stunden durch die Schule, versuche, mein bezauberdstes Lächeln durchzuhalten, da mit jedem Kind, das eine Tüte vom Nikolaus bekommt, ein Foto mit ihm und mir gemacht wird.
Schnell wird mir als „Ania Aniołka“ euphorisch zugewunken.
Bei unseren Klassenbesuchen habe ich einen Lieblingsmoment. Wenn sich diese Kinderaugen weiten, weil wir tatsächlich von weit weg kommen – wir MÜSSEN ja irgendwie echt sein, warum sollten der Weihnachtsmann und sein Engelchen aus Polen kommen und Polnisch sprechen, das macht ja überhaupt keinen Sinn. Aber ausländische Weihnachtsgestalten, die sind authentisch!
Die Situation, bei der ich Zähne, Ohren und Flügel zusammenkneifen muss, spielt sich immer am Ende der Show in der Klasse ab. „Und jetzt dürft ihr den Nikolaus und den Engel alle umarmen!“ Ein Sturm kreischender Kinder zieht auf, klammert sich an meine Beine, Flügel, Arme, das Knäuel drückt mich – mein Lächeln friert ein.
Es ist nicht so, dass ich keine Umarmungen mag. Eigentlich sehr. Aber so was Gekünsteltes?
Dass ich für Berührungsdings mit Kindern nochmal mehr sensibilisiert bin, als es in anderen Kulturen ohne zahlreiche öffentlich gewordenen Missbrauchsfällen üblich ist, merke ich, wenn ich den Weihnachtsmann sehe, wie er sich die Kinder auf den Schoß setzt und knuddelt. Natürlich, da ist in dem Moment eigentlich nichts dabei und ich hoffe, dass jetzt niemand denkt, ich verdächtige den Weihnachtsmann irgendeines perversen Horrors, bloß nicht.
Ich habe nur mein Befremden bemerkt, vielleicht ist mein Polonisierungsprozess einfach noch nicht so weit, dass ich „touchy“ bin. Olga gefällt mein neuer Spitzname und auch, mich mit kreischigen Umarmungen zu überfallen, „Aniuuuuu Aniołka!“ – aber weil ich sie mag, geht das klar.

Ania im Kindergeschenkewirrwar

Ania im Kindergeschenkewirrwar

Das war Nikolaus. Am nächsten Tag waren wir bei Pani Nowak. Ich könnte einen eigenen Eintrag nur über diese drei Stunden da schreiben. Diese Frau beeindruckt mich. Und das, bei dem geringen Anteil den ich verstehe – ihre Gedankensprünge haben Olympiaklasse. Denke ich, wir reden noch über ihre Lieblinspierogi, kommt auf einmal eine völlig zusammenhangslose Ausführung über guten Sex und Frauen mit Orgasmusproblemen. Als ich Olga frage, ob ich das richtig verstanden habe, nickt sie und meint, dass sie auch nach dem Kontext sucht, aber Pani Nowak einfach total „amazing“ ist. Außerdem 84 Jahre alt. Ich freue mich schon auf den nächsten Besuch und hoffe gleichzeitig, dass Pani Nowak ihren Weinvorrat nicht wieder auffüllt. Sie ist unhinterfragt eine Seele von Mensch, aber wenn es um den Konsum von Lebensmitteln geht, die sie uns anbietet, versteht sie keinen Spaß. Da sie prinzipientreu nur in Gesellschaft Alkohol trink, möchte sie unsere Gesellschaft dazu unbedingt auch nutzen. Ein Verweis auf die Uhr, die 10:14 anzeigt, wird gnadenlos ignoriert. Ebenso ergeht es unserer Ignoranz des halbvollen Weinglases gegenüber, die wird einfach nicht akzeptiert. Verzweifelt mache ich mich auf die Suche, nach einer geeigneten Topfpflanze, um den lieblichen (auch das noch..) Wein verschwinden zu lassen. Ich finde nur eine Orchidee und die Idee dann doch nicht so gut.
Verzweiflung, runter damit.

Runter damit.

Runter damit.

Nun, ein bisschen vom Haus: Es ist dunkel, verschneit, aber der Hinterhof. Sommervorfreude auf Grillen und Schattenplatz unter dicker Kastanie.

Dunkel, unscharf, Hinterhof

Dunkel, unscharf, Hinterhof