Tag Archives: Hunger

Polnische Partypeople und der Ernst des Lebens

17 Sept

Ich weiß nicht, wie es bei euch ist, aber hier ist es Halbacht, kurz vor stockdüster und wunderschön.
Meine erste Woche im Edith-Stein-Haus ist rum. Immer noch bin ich abends total erschlagen von den ganzen neuen Eindrücken, die mein von Routine verwöhntes Gehirn plötzlich verarbeiten muss. Es ist ein gutes Gefühl, wirklich.

Gerade fällt mir auf, wie schwierig es ist, meine Gedankenpratsche so zu schrumpfen, dass sie für euch verständlich ist und nicht nur „Ohaaa, der alte Mann in der Straßenbahn war richtig korrekt!“ und „Dieses Pärchen am pręgierz hat sich ununterbrochen fotografiert und ich bin da bestimmt auf der Hälfte der Fotos in mein Tagebuch kritzelnd verewigt…“ oder „Die Bäckereifrau greift schon automatisch zum dunkelsten Brot, das im Regal liegt, ist das nicht überkrass?“

Vielleicht fange ich mit meinem ersten wroclawischen Wochenende an. Den Sonntag lasse ich aus, den können wir getrost streichen. Da hatte ich nur Kopfschmerzen und sonst gar nichts, nicht mal Hunger. Ich will nicht jammern, aber an polnische Partys muss man sich langsam, Schluck für Schluck gewöhnen.

Freitag habe ich es tatsächlich gewagt, ins Theater zu gehen. Polnisches Theater! Also gut, ich übertreibe. „Medea na Manhattanie“ ist ein Stück von Dea Loher, die neben Polnisch auch Deutsch und Spanisch spricht. Deswegen fand die Regisseurin es überaus gewitzt, das Stück dreisprachig aufzuführen. So konnte ich zumindest die Medea verstehen. Für den gesamten Plot hat mir das aber nichts gebracht.
Später habe ich herausgefunden, dass auch die polnischen Zuschauer mit dicken Fragezeichen auf der Stirn im Publikum saßen.
Aber! Wir hatten sogar einen kleinen Job! Was zu tun! Endlich!
Das ganze Stück war im Rahmen einer Hochzeit aufgezogen. Irgendjemand hatte sich in liebevoller Kleinstarbeit die Mühe gemacht und kleine weiße Röschen aus Krepppapier für die Frauen und kleine weiße Schleifchen für Männer an kleine metallene Nädelchen zu befestigen. Olga und ich hatten nun die glorreiche Aufgabe, diese Blumen (Olga) und die Schleifen (Ich, oczywiście) den verwirrten Leuten anzupinnen.
Ohne erklären zu können, warum ich jetzt diese Nadeln in die hübschen Jacketts der teilweise empörten Männer rammen wollte, pinnte ich in charmanter Dreistigkeit wild in der Gegend herum bis alle versorgt waren.
Das Stück begann. Ich verstand nichts. Aber der Sohn der Direktorin des Edith-Stein-Hauses hatmitgespielt, das war schon ziemlich süß, muss ich sagen. 16 Jahre, vielleicht so grade aus dem Stimmbruch raus, in einem flatternden lila Kleidchen.
In brausendem Applaus stürmten Olga und ich auf die Bühne, alle Hände voll mit Blumen für die Schauspieler – noch ein Job, den wir glänzend meisterten.
Danach sind wir mit den Schauspielern, der Familie der Direktorin des ESHs und der Regisseurin noch was trinken gegangen. Wein und Käse, ein stilvoller Abschluss für einen wahrscheinlich sehr stilvollen Abend – ich hab ja nicht so besonders viel verstanden.
Aber! Wir haben Leute kennengelernt! Die Töchter der Direktorin, 20 und 19 Jahre alt! Sind richtig nett!

Und damit wären wir dann bei Samstagabend.
Nachdem die beiden nach einer kleinen polnischen Verspätung auf der Insel wie-auch-immer-sie-heißt auftauchten, kauften wir erst mal ein bisschen Bier. Und ohjeeeminee – bloß nicht zeigen, was da Alkoholisches gekauft wurde und um Himmels Willen nicht in der Öffentlichkeit trinken! Der einzige Ort in Wroclaw, an dem das möglich ist, ist diese Insel. Vielleicht nenn ich sie einfach die Trink-Insel. Mitten in der Oder, mit Blick auf die alte hübsche Universität.

Die alte hübsche Uni Wroclaws

Blick auf die Uni von der Trink-Insel her


Hier treffen sich Studenten. Olga hatte zuerst Angst, dass das der Alkoholikertreff sei. Gewisse Parallelen zwischen Studenten und Alkoholikern sind ja durchaus festzumachen.
Nun, hier ging es also los.
Bis wir dann den Club gefunden hatten, in dem wir bleiben wollten, mussten wir so einige andere ausprobieren und das Bier da testen. Ich hatte schon erwähnt, dass ich über Sonntag nicht sprechen möchte?
4 Mädchen aus 3 Ländern haben Spaß.

Heute war dann wieder der ernst des Lebens dran. Wobei der Ernst des Lebens hier ziemlich humorvoll ist, doch. Mein Deutschschüler Emanuel ist unfassbar geduldig mit meinem Polnischgekleckse, sehr interessiert und ich frage mich, woher er die Motivation nimmt, so eine nervige Sprache wie Deutsch zu lernen.
Wahrscheinlich will er, wie so viele Jugendliche, raus aus Polen. In den richtigen Westen, da, wo man Geld verdienen kann, und zwar mehr, als das untere Limit zum Leben.
Er ist einer, der zu żółty parasol kommt, der Beschäftigung sucht. żółty parasol engagiert sich für Jugendliche aus der Gegend, keine reiche Gegend, die irgendwie kein Geld für teure oder billige Hobbys haben. Jeden Nachmittag geht hier die Post ab, mal sind Bandproben, Theaterworkshops, Sprachunterricht, Spielenachmittage, Sportangebote, Filmabende – alle können kommen, keine muss was zahlen – unter dem gelben Regenschirm wird keiner nass.

So, mittlerweile habe ich ziemlichen Hunger, mich erwartet frisches phantastisches Brot.
Oh, übrigens esse ich hier nicht ausschließlich Brot. Oder Äpfel. Aber mit diesen Lebensmitteln hatte ich bisher die eingehensten polnischen Erfahrungen. Und mit Leber…eins der unschöneren sprachlichen Missverständnisse. Aber gut jetzt, ich ess jetzt was!