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Von Steinen, Eierfotos und der Stadt der Löwen – Annas Ukraine No.1

7 Mai

Ich bin zurück. Nach 23 Stunden Zug und Bus durch Ukraine und Polen und einem sonnigen Ausschlaftag kann ich jetzt meinen Lieblingskaffee in einem der Lieblingscafés in Wrocław trinken und versuchen, euch einen Bruchteil meiner ukrainischen Eindrücke einzuflößen wie meinen schwarzen Aeropress-Kaffee, der meinen Kopf gerade durchpustet. Hoffentlich schafft er es, all die Reize der letzten Tage zu ordnen und den Brei der langen Reise zu in Würfelzuckergröße zu packen.

Auf die Plätze
Es geht los. Dienstagabend um 23.47 geht unser Zug nach Krakau. Die erfahrenen Polen-Zugfahrer werden sich fragen, warum in Teufels Namen wir denn um diese Uhrzeit mit diesem furchtbar vollgestopften Zug sechs Stunden auf den Schienen verbringen, wenn wir doch einfach den Link-Bus nehmen könnten und in drei komfortablen Stunden am Halbziel angekommen sein könnten. Sie werden allerdings auch wissen, dass das deutlich teurer als Zugfahren ist.
Während ich unter einer blutenden dicken Softballlippe vom Training vor ein paar Stunden leide, erleidet Olga einen kleinen Kulturschock. Dass Züge so vollgepackt mit lauten und schwitzigen Hartschalenkofferleuten gepackt sein können, hat sie bisher nicht gewusst. Da liegen Leute im Gang!
Da lobe ich mir das Survival Training, das ab und zu bei der Deutschen Bahn inklusive angeboten wird.
Olga sitzt in einem anderen Abteil und schafft es tatsächlich, zu schlafen. Bei mir tümmelt sich der grölende Pöbel, der den ganzen Wagon wachhält. Ein safteres Wort als „Pöbel“ fällt mir nicht ein, die ganze Fahrt über nicht – dabei habe ich ausreichend Zeit zum Überlegen, der Schlafluxus bleibt mir vergönnt.
Der zweite Zug ist angenehmer, deutlich. Ich schlafe bis fast zur polnisch-ukrainischen Grenze. Bis zur tatsächlichen Grenze bringt uns ein Rappelbus, in dem Olga eine Bekannte trifft, mit der wir bis nach Lviv weiterfahren. An der Grenze lernen wir noch einen Polen kennen, der ganz froh ist, ortskundige Hilfe zu bekommen – ich wäre ohne Olga wahrscheinlich auch überaufgeschmissen bei all dem Kyrillisch.
Nachdem mein terroristisches Reisepassbild zweimal kritisch mit meinem freundlichen Grinsegesicht verglichen wurde, fahren wir mit dem Bus durch die blühende Apfelbaumlandschaft. Und dann kommen wir in Lviv, der Stadt der Löwen, an.

Lviv
Wir übernachten und speisen köstlich bei der Familie einer Freundin von Olga. Meine zwei Wörter Ukrainisch reichen, um mit der Mutter z kommunizieren, die Tochter war mit dem gleichen Programm wie Olga in den USA, da ist mehr Gespräch möglich.
Vielleicht hätte ich Olga nicht erzählen sollen, dass mein Vater sich viele ansehnliche Fotos des Ukraine-Abenteuers wünscht, denn ab jetzt scheucht sie mich durch die Stadt und platziert mich zwischen Löwen, ukrainischen Ostereiern und willkürlichen Fotomotiven.

"Ich mach ein Foto, Anna in den Straßen von Lviv, ok?"

„Ich mach ein Foto, Anna in den Straßen von Lviv, ok?“

Ei und Nachmacher im Hintergrund

Ei und Nachmacher im Hintergrund

Löwenkram und meine unfassbare Lust auf gestellte Fotos

Löwenkram und meine unfassbare Lust auf gestellte Fotos

Die Stadt gefällt mir, aber sie ist so gar nicht, wie ich mir eine ukrainische Stadt vorgestellt habe. Aber ich höre von allen Seiten, das Lviv unvergleichbar mit anderen Städten ist. Ehrlich gesagt, finde ich das schon. Sie erinnert mich an polnische Städte, vielleicht ein bisschen romantischer. Löwenstatuen tümmeln sich rund um den Rynek, ebenso die Touristen. Von meiner platten Aussage, dass ich die Stadt mag, ist Olga enttäuscht. Ich höre mir zum wiederholten Mal an, dass ich ein deutscher Stein ohne Emotionen bin – warum bin ich nicht so euphorisch wie sie? Dann erzählt mir Olga, dass Lviv für sie eine Urlaubsstadt ist, ein Ort zum Ausspannen, mit dem sie tolle Zeit mit tollen Leuten verbindet. Es sind die Erinnerungen, die dort entstehen, die die Stadt so besonders machen.
Wir machen uns also daran, Erinnerungen zu schaffen. Am ersten Abend treffen wir Johannes und Clara, ASFler auf der Ukrainedurchreise, das lange Wochenende wissen wir wohl alle gut zu nutzen. Später tingeln wir mit Freunden von Olgas Freundin weiter und fallen irgendwann sehr k.o. ins Bett, endlich, ein Bett, keine harte Zuganlehne.

Ein voller nächster Tag. Zuerst streifen Olga und ich durch die Pflastersteinstraßen und genießen. Der ganze Trip ist ein dicker fetter Genuss. Wir steigen hinab in Kaffeeminen und Kellerkneipen. Wir quetschen uns Treppenhäuser hoch und besteigen Aussichtstürme, essen ukrainische Gerichte, deren Namen ich mir nicht merken kann und handgemachte Pralinen.

Rathausblick

Rathausblick

Wysoki Zamek Spaß

Wysoki Zamek Spaß

Da oben haben wir dann den Polen vom Grenzübergang wiedergetroffen – die Welt ist so klein. Mit ihm, seinem Bruder und einem Freund haben wir sind wir dann weitergezogen zu einer Kneipe mit eigenem ungefiltertem Bier. Wir reden hauptsächlich Polnisch, aber Olgas ukrainische Freundin antwortet meistens auf Englisch. Das hört ein Nachbartischsmensch aus Kanada und klingt sich ins Gespräch mit ein, dazu kommt später sein deutscher Warschau-Erasmusfreund und aus einem Bier werden zwei. Plötzlich endet der Abend abrupt: Wir müssen unseren Zug nach Kiev kriegn. Also tschüss und wer weiß, die Welt ist klein.

Nachtzug
Im Vorhinein hat Olga ein kaltes Horrorszenario an meine Hirnrinde plakatiert. Sie verglich polnische Nachtzüge mit Baracken in Auschwitz. Makaber wegen Unmöglichkeits des Vergleich. Dementsprechend alamiert und aufs Schlimmste gefasst betrete ich also den Zug. Wenn es in Polen schon so furchtbar sein sollte, wie sieht es dann bitte in der Ukraine aus? Ich will mich ja überhaupt nicht als voruteilsfrei brüsten.
Als ich unseren Schlafbereich sehe, denke ich an ein Paradies in Rot-Samt. Gemütlich, wohltemperiert und sogar noch ausgestattet mit einem interessaten Liegen-Nachbarn, dessen verflixten Namen ich immer wieder vergesse.
Er zählt von seiner Per-Anhalter-durch-Europa-Tour und lädt uns ein, mit ihm und seinen Kumpels wandern zu gehen. Allerdings checkt er zuerst unsere politische Haltung ab, weil seine Freunde „krasse Marxisten“ sind und er keine Lust auf riesige Reibereien hat. Aha, ok. Wir überlegen uns das.
Ich werde von jungen Sonnenstrahlen durch Zuggardinen geweckt und dann kommt auch schon eine Zugbegleiterin und fragt, ob wir Tee oder Kaffee wollen. Tee, bitte. Und dazu essen wir frisch gebackenes Osterbrot von unserer Gastmutter in Lviv. „Osterbrot für einen veganen Atheisten“, kommentiert unsere Zugbekanntschaft trocken sein regelbrechendes Zugfrühstück.

Guten Morgen, guter Morgen

Guten Morgen, guter Morgen

So, der erste Teil der Reise ist geschafft. Vom zweiten Teil erzähle ich euch demnächst mehr. Von verschwitzten Rucksackrücken und einsamen Zarenparks und viel mehr kleinen Sachen.